Es waren bereits einige Wochen vergangen, seitdem Jonah den Samen von Mr. Haze eingesetzt hatte. Zuerst schien alles prima zu laufen: Der Samen war in der dunklen, warmen Erde gekeimt und hatte sich seinen Weg ins Licht der Sonne freigekämpft. Danach wuchs der kleine Keimling rasch zu einer stattlichen Pflanze heran. Doch plötzlich wurde ihr Wachstum immer schwächer und stoppte schließlich vollends. Sie war nun seit mehreren Tagen nicht weitergewachsen. Jonah war sich allmählich nicht mehr sicher, ob er ihr noch eine Chance von einigen Tagen geben oder sie doch einfach gleich entsorgen sollte.
Traurig schaute er auf das Gewächs hinab und kratzte sich am Kopf. „Was habe ich denn nur falsch gemacht?” Er wusste, dass er nicht gerade ein professioneller Grower war, doch so häufig hatte man ihm gesagt, dass diese Pflanze wie Unkraut wachsen würde. Ein letztes Mal zog er an seinem Joint und drückte ihn auf einem Stein aus.
„Warum so ein langes Gesicht, Dude?” Mr. Haze war neben ihm aufgetaucht und legte ihm vertraut seine weiße Hand auf die Schulter.
„Meine Vorräte sind bald leer. Heißt das, wir können uns dann nicht mehr sehen?“ Jonah wirkte etwas bedrückt. So durchgeknallt und exzentrisch Mr. Haze auch sein mochte, war er Jonah doch jetzt schon ans Herz gewachsen.
„Yes, aber wenn du wieder eine neue Ernte einfährst, we’ll meet again.“ Mr. Haze Amaze grinste ihn herzlich an.
Jonah schüttelte den Kopf. „Dann werden wir uns wohl so schnell nicht wieder sehen.“ Er deutete neben sich auf seine kümmerliche Cannabispflanze. „Because of that plant? Hyahaha don't worry boy, she's still alive. Du musst ihr nur Zeit und Zuwendung schenken. Mit ein bisschen Können wird sie explodieren. BOOM!“ Dabei gestikulierte Mr. Haze wild mit den Händen umher.
„Aber genau das ist ja das Problem, meine Grow-Kenntnisse sind ziemlich beschränkt und ich weiß nicht wie man…“ Mr. Haze machte eine Handbewegung in der Luft und wie ein Reißverschluss schloss sich Jonahs Mund. Außer einem Laut des Protestes konnte er keinen Laut mehr von sich geben.
„Shshsh, so einen Stuss will ich nicht mehr hören, you got me? Wenn du glaubst, du kannst es nicht, dann bringen wir es dir einfach bei. Und ich kenne schon den perfekten Ort dafür.“ Er schnippte mit den Fingern und alles um sie herum begann zu verschwimmen.
Plötzlich “ „wurde“ es hell, bis schließlich alles weiß und nur noch Mr. Haze Amaze klar und deutlich vor ihm zu erkennen war. Dieser wirkte ganz entspannt, so wie immer. Dann begann er sich zu strecken und zu dehnen, wie ein Läufer vor einem großen Lauf. Er machte mehrere Kniebeugen und reckte seine langen dünnen Arme in die Luft.
Seine Kleidung war von kleinen nassen Flecken überzogen und erste Wassertropfen rannen an seinem großen, grünen Schädel herunter. Kam er etwa von den paar Übungen schon ins Schwitzen?
„Just one second…“ Mr. Haze Amaze hatte seine Übungen unterbrochen und starrte auf den Boden unter ihm.
Jonah verstand noch nicht genau, was gerade passierte. Doch er spürte, wie sich nach und nach auch auf seinem Körper Feuchtigkeit verteilte, als würde er in einer Dampfsauna stehen.
Plötzlich tauchte mit einem lauten Plopp ein riesiger Wassertropfen vor ihnen auf. Eine glänzende blaue Sphäre, die vor Jonah hin und her wackelte. „Aaaaaand down we go!“ rief Mr. Haze euphorisch, sprang mit dem Kopf voran in die Wasserkugel und riss sie mit sich, als er im Boden verschwand.
Jonah stand wie angewurzelt da. Er wusste nicht, was er nun tun sollte. Dann tauchte vor ihm plötzlich eine weitere Wasserblase auf, die munter herum wabbelte. Jonah war sich unsicher: Sollte er sich einfach wieder auf Mr. Haze Amaze verlassen und es ihm gleichtun? Die Kugel vor ihm wurde allmählich größer und erreichte bereits die Spitzen seiner Schuhe. Als er noch weiter zögerte, wurde ihm die Entscheidung schließlich abgenommen, als sich die Kugel stetig ausdehnte und Jonah in sich hinein sog. Sie umschloss ihn komplett und er spürte, wie sie sich langsam nach unten bewegte.
Als über die Hälfte der Kugel nach unten gesunken war, wagte Jonah einen Blick durch den Boden der Sphäre, in der er gefangen war. Doch was er da sah, ließ seinen Atem stocken:
Er konnte Berge sehen, ein großes Meer und weite Felder. Das erschreckende daran war jedoch die Perspektive von oben: Er musste sich mehrere tausend Meter über der Erde befinden.
Die Kugel sank noch immer weiter, bis nur noch eine kleine Fläche an ihrer Decke in der weißen Masse steckte. Es war also abzusehen, dass die Wasserblase in wenigen Sekunden…
„Oh verdammte Schei…“ Jonah konnte seinen Satz nicht beenden, als sich der gewaltige Tropfen löste. Durch die Fliehkräfte an die Oberseite seiner Wasserkugel gepresst, stürzte er im freien Fall auf die Erde zu. Die Berge unter ihm kamen immer näher. Jonah verspürte eine eigenartige Mischung aus panischer Angst und überwältigender Faszination. Er wollte seine Augen am liebsten fest verschließen, konnte aber auch nicht wegschauen.
Es waren nur noch wenige hundert Meter bis zum Boden und Jonah konnte die ersten Details erkennen. Er flog auf einen großen Berg zu, in dessen Mitte ein großer Acker zu sein schien. Ein großer, runder Platz, gefüllt mit dunkler Erde. Er rechnete damit, in wenigen Sekunden aufzuschlagen, und war sich sicher, dass er das selbst mit diesem weichen Boden mit Sicherheit nicht überleben würde. Und was würde dann wohl passieren?
Als er sich diese Frage stellte, kam der Grund noch immer näher. Die von Erde bedeckte Fläche wurde größer und größer und er konnte kleine Grashalme, die aus dem Boden sprossen, erkennen. Doch auch sie wurden immer größer oder war er einfach nur wieder winzig geworden?
Noch bevor er sich weiter mit dieser Frage beschäftigen konnte, landete er unerwartet sanft, aber dennoch bäuchlings auf dem Boden und versank leicht in der Erde.
Etwas unbeholfen stemmte Jonah sich aus dem schlammigen Boden heraus und klopfte sich ab. Verwundert schaute er sich um: Wo war Mr. Haze Amaze geblieben? Als er hinter sich auf den Boden blickte, sah er den großen grünen Schädel. Er steckte bis zum Hals in der Erde und seine roten Augen schauten Jonah direkt an. Der Zylinder saß noch immer aufrecht auf seinem Kopf.
Jonah ging in die Hocke und betrachtete die grüne Fratze. Plötzlich schossen links und rechts neben ihm die weißen Handschuhe von Mr. Haze aus dem Boden und packten ihn an den Handgelenken.
„C'mon boy, we got lessons to learn!“ Mit diesen Worten riss er Jonah hinab in das tiefe, dunkle Erdreich. Jonah beging den verheerenden Fehler zu einem „Oh fuuu… !“ anzusetzen.
Mit dem Mund voller Erde plumpste er schließlich in eine Art Tunnel. Mr. Haze Amaze hatte sich schnell wieder gefangen und klopfte sich die Erde von seinem schwarzen Anzug und dem Zylinder.
„Mmh nicht ganz wo ich hin wollte, but who cares?“ Mr. Haze zuckte mit den Schultern, als er sich Jonah zuwandte. Er packte ihn an seinem Pullover und zog ihn nach oben. Jonah spuckte und hustete Erdklumpen, als er wieder auf seinen Beinen zum Stehen kam.
„Warn mich das nächste Mal vor!“ murrte er ihm, noch immer Dreck aus seinem Mund pulend, entgegen.
Mr. Haze Amaze lachte herzhaft. „Dreck reinigt den Magen, Dude. Und jetzt komm!“ Er ging mit großen Schritten voran, tiefer hinein in den dunklen Tunnel. Jonah klopfte sich noch den Schmutz von seinen Klamotten und aus seinen Haaren, dann hastete er Mr. Haze hinterher.
Nach einigen Metern kamen sie an eine große Kreuzung. Die Decke über ihnen wirkte sehr porös, fast schon fluffig und dadurch instabil.
„Ah, that's the right spot. Count down! Three!“
„Countdown für was?“
„Two!“
„Was hast du vor?“
„ONE!“
Jonah kauerte sich auf den Boden und hielt sich die Hände über den Kopf.
„Here it comes!“ Mit einem lauten Krachen schlug etwas oberhalb der Decke ein und schien sich seinen Weg durch das Erdreich zu bahnen. Dann stürzte ein großer Haufen Erde von oben herab und türmte sich vor Mr. Haze Amaze auf.
„Oh so beautiful.“ Mr. Haze steckte seine Arme bis zu den Schultern in den Erdhügel und holte etwas Rundes heraus.

Er hielt einen Cannabissamen in den Händen, der größer als sein ohnehin schon überdimensionierter Kopf war und umarmte ihn wie ein geliebtes Haustier. Dann legte er ihn vorsichtig wieder zurück auf den Hügel. Wie aus dem Nichts zauberte er eine große Wolldecke aus seinem Jackett und warf sie behutsam auf den Hügel. Anschließend zog er seinen Zylinder ab und drehte ihn herum. „Now we add at little bit of water.“ Wie aus einem vollen Eimer schüttete er einen Schwall Wasser aus seinem Hut über den Erdhügel.
„Und jetzt heißt es abwarten. Let the magic begin! Denk an den Breeding Room: Wärme, Wasser und Dunkelheit.That’s all it takes, buddy. Und wir werden Zeuge eines Wunders von mother nature. Also dimm the lights!” Mit einer ausladenden Handgeste bewegte Mr. Haze die Erdmassen über dem Eintrittspunkt des Samens und es wurde schlagartig dunkler. Doch nur kurze Zeit später erhellte ein fahles, grünes Licht die Höhle – Mr. Haze hatte seinen Kopf zum Leuchten gebracht.
Mr. Haze drehte sich wieder herum, setzte sich an eine der Höhlenwände und winkte Jonah zu sich.
Jonah tat es Mr. Haze gleich, setzte sich neben ihn auf den Boden und beobachtete den Hügel aufmerksam. Ein süßlich-würziger Duft stieg ihm in die Nase. Mr. Haze hatte sich einen Joint angezündet und nahm einen tiefen Zug. Freundlich grinsend hielt er ihn Jonah entgegen. „Gönnen wir uns 'ne Pause, nach dem Absturz. Aber mach sowas bloß nie zu Hause. Die Pflanzen und auch Samen reagieren empfindlich auf Rauch. Verständlich, oder?”
Jonah überlegte kurz, doch was sollte schon passieren? Er war wieder einmal in seiner Traumwelt, anders konnte er es sich nicht erklären. Also nahm er den Joint und füllte seine Lungen mit dem süßlichen Rauch.
„Ach so eine peinliche Stille ist doch terrible.“ Mr. Haze schnippte mit den Fingern und eine sanft klingende und verträumte Melodie durchfloss die große Kuppel. „Mmmh nice chillig. Hast ’nen guten Geschmack, Dude. Lofi, nette Sache.“
„Aber woher weißt du eigentlich …“, setzte Jonah an.
„I know everything about you, my brother. HYAHAHA!“ Wie so oft beantwortete er seine Frage nicht wirklich und brach dann in schallendes Gelächter aus. Jonah musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass er so schnell wohl keine Antwort auf diese Art von Fragen erhalten würde. Er gab sich damit zufrieden, dass das alles hier wohl nur eine Art neue Stufe des High-Seins sein könnte. Wahrscheinlich lag oder saß er nur regungslos auf dem Sofa oder in seinem Bett, aber in seinem Kopf ging er auf fantastische Reisen. Nicht sehr elegant, aber auch nicht unbedingt die schlechteste Art, breit zu sein.
Eine Weile saßen sie so nebeneinander und lauschten den beruhigenden Klängen, umgeben von einer dicken Rauchwolke, wohliger Wärme und gedimmtem grünen Licht.
Plötzlich schien der Erdhügel sich zu bewegen, oder viel mehr das, was darunter lag. Die Decke, welche auf dem Hügel lag, erhob sich und darunter kam der Samen zum Vorschein. Seine untere Hälfte war aufgeplatzt und eine weißlich-grüne Wurzel ragte aus dem Erdreich hervor.
Mr. Haze sprang vom Boden auf und applaudierte. „Good girl!“
Auch Jonah war wieder aufgestanden und beobachtete das Schauspiel.
Mr. Haze langte in die Tasche seines Jacketts und zog eine goldene Taschenuhr hervor. Mit einem Klicken öffnete sich das Scharnier und ein weißes Ziffernblatt mit grünen Zeigern kam zum Vorschein. „Okay let’s speed things a lil bit up.“ Mit diesen Worten drehte er an einem der Zeiger.
Wie in einem Zeitraffer-Film warf die eben gekeimte Pflanze ihre Schale ab und wuchs in einem rasanten Tempo in die Höhe. Schnell durchbrach sie die Decke, während der ganze Raum sich mit Wurzeln füllte. Sie bildeten ein dichtes Geflecht und Jonah befürchtete, dass sie ihn und Mr. Haze einfach verschlingen würden.
„Aaaaand enough.“ Mit einem Mal stoppte das Wachstum und die gesamte Bewegung in der Höhle kam zum Erliegen. Mr. Haze drehte sich herum und grinste. „Come on, weiter geht’s.“
Er packte Jonah an der Hand und zog ihn hinter sich her. Sie stoppten vor einer riesigen Wurzel, welche sich ungefähr dort befand, wo noch vor wenigen Minuten das kleine Samenkorn vergraben war. Sie war breiter als Jonah selbst und zerteilte sich in abertausende dickere und dünnere Seitenarme.
„Erinnerst du dich noch, wie du hier runtergekommen bist?“
Jonah erschauderte, als er wieder an den verstörenden freien Fall aus tausenden Metern Höhe dachte. „Ich wurde von dieser komischen Wasserkugel eingesaugt und bin dann sprichwörtlich aus allen Wolken gefallen! Nicht gerade die feine Art, mich von A nach B zu bringen.“
Mr. Haze lachte lauthals. „Yeah, man. It’s raining men. Got it?“ Jonah realisierte nun, was dieser Fall zu bedeuten hatte: Er war als ein Regentropfen vom Himmel auf die Erde gefallen.
„And now, a test. Welche Nährstoffe braucht eine Pflanze im Wachstum und wie kommen sie mitsamt dem Wasser in die Wurzeln?“ Jonah grübelte einen Moment, doch dann zuckte er mit den Schultern. Er wusste zwar, dass Pflanzen und ihre Wurzeln Wasser benötigen und man sie deshalb regelmäßig gießen sollte. Doch wie genau die Wasser- und Nährstoffaufnahme einer Pflanze funktionierte, darüber hatte er sich nie wirklich Gedanken gemacht.
„Mööp! Viel zu lange überlegt. Answer number one…“ Er zog einen kleinen Beutel mit der Aufschrift „Early Stage“ aus seiner Tasche. „In diesem Beutelchen befindet sich eine sanfte Mischung aus hauptsächlich Stickstoff, als auch etwas Kalium und Phospor, die drei wichtigsten Nährstoffe für unsere Pflänzchen. Doch da unser Mädchen noch so klein ist gibt’s erstmal nur ganz wenig davon“ Mr. Haze öffnete den Beutel und holte eine Handvoll Pulver daraus hervor. Er warf es mit einer schwungvollen Bewegung gegen Jonah und ließ eine große Portion auf sich herabrieseln. „Der Dünger kommt mit dem Wasser in die Wurzeln.” Jonah warf ihm einen angesäuerten Blick zu, das Gesicht voller Düngerpulver.
„Und das zweite Zauberwort lautet …“ Mr. Haze hielt einen Moment inne und breitete seine Arme weit aus. „Osmosis!“
Plötzlich spürte Jonah, wie etwas an ihm zog. Eine Art unsichtbarer Sog, der von der Wurzel aus zu gehen schien. Wie durch ein magisches Portal wurden er und sein Begleiter durch die Außenwand der Wurzel ins Innere hinein gezerrt.
Sie befanden sich nun innerhalb der Wurzel und schienen noch weiter geschrumpft zu sein. „Osmose ist der Vorgang, bei dem die Pflanzen das Wasser mit ihren Wurzeln ansaugen. Und da du aktuell ein Wassertropfen bist … „ Mr. Haze kicherte und kniff Jonah in die Wange.
Der Gang, in dem sie jetzt standen, war ein etwa drei Meter hoher grüner Tunnel. Ein seichter Strom aus Wasser rann zwischen ihren Füßen hindurch und lief entgegen jeder Logik den Gang hinauf, anstatt hinab.
„Okay let’s move on to the leaves. In der Vegetationsphase bilden sich die meisten Blätter und die Pflanze wächst in der Regel eher buschig. Und insbesondere die großen Blätter tragen den Großteil der Aufnahme des so begehrten Sonnenlichtes bei. Sie betreiben Photosynthese und bilden dadurch Zucker, den die Pflanze zum Weiterwachsen benötigt. Let’s take the fast lane. Denn diese großen Blätter brauchen auch eine Menge Wasser, um so groß zu werden. Weißt du, was der Kapillareffekt ist?” Jonah schüttelte den Kopf.
Erneut holte Mr. Haze seine Taschenuhr hervor und drehte an einem Rädchen an der Seite. Auf dem Ziffernblatt war eine Sonne zu sehen, welche nun auf ein Tropfensymbol wechselte. „Let it rain, baby.”
Plötzlich war ein lautes Rauschen in der Ferne zu hören. Hinter ihnen tauchte ein tosender Wasserstrom auf und riss sie mit sich in Windeseile durch den langen grünen Tunnel. Nach einer Weile teilte sich der Tunnel in viele kleinere Gänge auf. Mit einem rasanten Tempo wurden Jonah und Mr. Haze durch einen dieser Gänge gezogen, bis er immer schmaler und kleiner wurde.
„Nächste Station: Blattspaltöffnung! Prepare to drop.” hallte Mr. Hazes jubelnde Stimme durch das Tosen der Wassermassen. Mit einem Mal öffnete sich vor ihnen an der Unterseite des Ganges ein gewaltiger Spalt, durch den das Wasser abzufließen schien. Auch die beiden Nichtschwimmer zog es durch den Spalt und hüllte sie erneut in einen großen Wassertropfen am anderen Ende des Spalts.
Unter ihnen befand sich ein gigantisches Cannabisblatt, auf dem mehrere der riesigen Tropfen aufgeschlagen waren. Mit einem glucksenden Geräusch löste sich auch ihre Wasserblase und sauste auf das Blatt hinab. Gedämpft von der sie umgebenden Flüssigkeit kamen sie sanft auf.
„Das hier, mein Freund, bezeichnet man im gemeinen auch als ein ‘Sonnensegel’. Ein riesiges Cannabisblatt, das mit seiner enormen Größe eine Menge Sonnenlicht einfangen kann.” Mit diesen Worten ging Mr. Haze an Jonah vorbei und holte zwei klappbare Liegen aus dem Nichts hervor. Mit einer grazilen Bewegung warf er sie nach vorn, wo sie sich von selbst auseinander falteten.
„C’mon, dude, take a seat.” Mr. Haze warf all seine Klamotten bis auf eine giftgrüne Unterhose sowie seinen Zylinder von sich und schmiss sich auf eine der Liegen. Jonah ging auf die andere Liege zu und legte sich ebenfalls darauf. Mr. Haze reichte ihm eine grüne Sonnenbrille und setzte sich selbst ebenfalls eine auf seine großen, roten Augen.
Die Sonne strahlte hell am wolkenlosen Himmel und trieb Jonah den Schweiß auf die Stirn. Als er zur Seite blickte, sah er, wie Mr. Haze genüsslich an einem großen bunten Cocktail schlürfte. Er hatte sich den Strohhalm zwischen die breiten Zähne geklemmt und zog die bunte Flüssigkeit schlürfend in sein gewaltiges Maul.
„Aaaah man, I’m sweating. Genau wie diesen Blättern, läuft mir schon die Brühe aus allen Poren. Und das ist genau der Grund, weshalb du sie regelmäßig gießen solltest. Wasser ist nicht nur für euch Menschen existenziell und nicht nur ihr könnt durch’s schwitzen Wasser verlieren”, erläuterte Mr. Haze, während er den eiskalten Cocktail hin und her schwenkte. Jonah folgte seinen Bewegungen und leckte sich über die Lippen. Ein Schlückchen davon wäre jetzt genau das Richtige.
„Haha, no way, boy. Den Cocktail hier solltest du besser nicht trinken. Das hier ist ein hausgemachtes Düngergemisch, um dem Wachstum dieses Babys nochmal ordentlich einzuheizen. Diesmal mit einer ganzen Menge Stickstoff, den brauchen sie zum Wachsen.” Lachend erhob er das Glas in die Luft und drehte es auf den Kopf. Mit einem Schwall klatschte die Flüssigkeit auf den giftgrünen Boden.
Als würde sie ein Erdbeben erschüttern, begann das Blatt und die gesamte Pflanze zu zittern und zu pulsieren. Mit knarzenden Geräuschen dehnte sich der Boden unter ihnen immer weiter aus und die Triebe in weiter Ferne wurden länger. Die gesamte Pflanze schien in einem enormen Wachstumsschub förmlich zu explodieren.
Nach einigen Minuten dieses Spektakels kehrte wieder Ruhe in die Pflanze ein. Mr. Haze klatschte laut Beifall und lachte euphorisch. Jonah hatte das Erdbeben von seiner Liege befördert. Wackelig kam er wieder auf seinen Beinen zum Stehen.
„Tjahaha Stickstoff ist der gute Stoff. Jetzt aber genug gewachsen. Schließlich wollen wir nicht noch weiter in die Breite, sondern hoch hinaus. So let’s get high!” Wieder holte Mr. Haze seine kleine Taschenuhr hervor und drehte erneut an dem seitlichen Rädchen, bis ein Blumen-Symbol zwischen den Zeigern auftauchte.
Schlagartig sank die Sonne ein ganzes Stück tiefer und auch die Farbe ihres Lichtes war nun nicht mehr grell weiß, sondern eher rötlich-orange. Es war ein sehr warmes und angenehmes Licht und erinnerte Jonah an einen lauwarmen Tag im Herbst. „Und damit liegst du sowas von richtig. One hundred Points for you!” Mr. Haze schien seine Gedanken gelesen zu haben. „Wenn wir diese Lady zum Erblühen bringen wollen, müssen wir erstmal die richtige Jahreszeit dafür einstellen. Im Freien würde sie schließlich auch erst in den kürzeren Herbsttagen in die Blüte übergehen, da sie das Ende des Jahres kommen sieht.”
Seine Worte klangen einleuchtend, doch noch verstand Jonah nicht, was Mr. Haze mit „hoch hinaus” meinte. Doch es dauerte nicht lange, da bemerkte er, was es damit auf sich hatte.
Ohne es wirklich zu bemerken, waren sie bereits einige Meter weiter oben als noch vor wenigen Minuten. Die Pflanze schien erneut zu wachsen, dieses Mal jedoch in die Vertikale.
Als Jonah Mr. Haze anschaute, hob dieser seine Uhr in die Luft und deutete auf das Ziffernblatt. Wieder war dort das Symbol der Sonne zu sehen, dieses Mal war sie allerdings nur zur Hälfte abgebildet. „Um ihr klarzumachen, dass sich das Jahr dem Ende neigt und sie schnellsten in die Blüte wechseln sollte, reduziert man einfach die Lichtstunden auf von den sommerlichen 18 Stunden Sonne auf 12 Stunden, was ungefähr einem durchschnittlichen Herbsttag entspricht. Und auch die Lichtfarbe ist genau wie im Herbst, denn auch zu dieser Jahreszeit wirkt alles eher rötlich und warm, don’t you think?”
Mr. Haze legte einen Finger an den oberen Stundenzeiger der Uhr, grinste Jonah hämisch an und drehte ihn wild im Kreis herum. „And now ladies, some strechting exercises.” Wie zuvor ging ein heftiges Beben durch die gesamte Pflanze und das Blatt, auf dem sie sich befanden, schoss in die Höhe. Doch nicht nur das Blatt, auch die Stiele und Seitentriebe des gewaltigen Baumes streckten sich wie gierige Arme dem Himmel entgegen. Wie in einem Aufzug rasten sie immer weiter hinauf, während sich überall an den Trieben und Blattachseln kleine Blütenansätze bildeten.
Auch direkt neben ihnen reckte sich ein gewaltiger Seitentrieb in die Luft und präsentierte seine Blüte. Noch war sie recht klein und nicht sehr weit ausgebildet. Ihre dünnen weißen Härchen ragten wie Insektenfühler aus den grünen Blütenkelchen hervor und ein leichter weißer Kristallbelag hatte sich bereits um die kleinsten Blätter und um die Kelche herum gebildet.
Das rasante Wachstum stoppte abrupt, als Mr. Haze den Zeiger seiner Uhr verharren ließ. „Now look at that beauty. So sieht ein gesunder Blütenansatz aus. Magnificent. Siehst du diese weißen Härchen? Das sind die Blütenstempel oder auch Stigmen genannt. Sie wachsen wie auch bei anderen Blumen aus der Blüte, der Calyx, heraus, um Pollen aufzufangen und bestäubt zu werden. But, like you know, wollen wir das in diesem Fall nicht. Denn ist sie erst einmal bestäubt, setzt sie all ihre Energie in die Samenbildung und nicht mehr in die Blüten- und Trichombildung. That would be a shame.”
Mr. Haze trat näher an die Blüte heran und winkte Jonah zu sich. „Noch ist sie klein und, wie du sehen kannst, sind ihre Blütenkelche noch nicht wirklich groß. Aber sie hat das alles bisher aus eigener Kraft und mit etwas gezieltem Düngen geschafft. Also sollten wir sie auch bei ihrer letzten Entwicklungsphase unterstützen, don’t you think?” Wieder griff er in die Tasche seines Jacketts und zog eine lange, dicke Spritze hervor. Auf dem Glas der Spritze stand in fetten Buchstaben das Wort „Bloom-Booster” geschrieben. Im Inneren befand sich eine schillernde Flüssigkeit. „Phospor und Kalium für die Blüte wirkt wahre Wunder. Und natürlich hab ich noch ein paar Zusätze dazu gemischt, aber was genau bleibt my little secret.”
Mr. Haze rammte die Spritze mit voller Wucht einige Zentimeter unterhalb der Blüte direkt in den Ast und drückte auf den Kolben. Wie auch bei den anderen Düngern, begann die Blüte zu vibrieren und zu zittern, als sie rasant an Größe und Masse zunahm. Sie wirkte beinahe wie ein aufgehender Kuchenteig. Die Blütenstempel schlängelten sich durch die dichte grüne Masse und färbten sich von schneeweiß allmählich zu einem hellen braun-orange.
Der Geruch, der von der Blüte ausging, war überwältigend: Süßlich, würzig und mit einem Hauch von Tannenduft. Die dicken Blütenkelche und die sie umgebenden kleineren Blätter strotzen nur so vor Harzkristallen und glänzten im Licht der Sonne.
„Take a closer look, boy. Wenn du dir das Harz, die Trichome, mal genauer anschaust, wird dir auffallen, dass auch sie ihre Farbe geändert haben. Zuerst sind sie durchsichtig, wie Wassertropfen. Doch mit der Zeit werden sie milchig-weiß und anschließend bernsteinfarben. What do you think? Wann ist der richtige Zeitpunkt für die Ernte?”
Jonah überlegte einen Moment. Er konnte sich nur vage daran erinnern, einmal etwas über die Verfärbung der Trichome und den optimalen Zeitpunkt gelesen zu haben. „Mmh, ich weiß nicht. Vielleicht, wenn sich alles bernsteinfarben gefärbt hat?”
Mr. Haze schüttelte enttäuscht den Kopf. „Not quite right, aber ein bisschen Geschmackssache ist das natürlich auch. Eigentlich ist es wie bei jeder Ernte: je länger du die Ernte hinauszögerst desto mehr steigt die Chance auf einen größeren Ertrag, gleichzeitig aber auch das Risiko, dass einige Früchte bereits überreif sind.”
„Das bedeutet also, ich ernte sie bevor alles braun ist?” fragte ihn Jonah. Mr. Haze nickte eifrig. „Und das hat auch noch einen anderen Grund. Die Färbung von weiß zu bernstein ist eine Oxidationsreaktion, heißt einige Wirkstoffe in den Trichomen verwandeln sich. Auch THC wird mit fortschreitender Reife in CBN umgewandelt. Doch manche wollen es genau so, da das CBN eher den Stoned-Effekt steigert. Umgekehrt gilt natürlich das Gleiche. Merk dir also einfach: je heller die Trichome, desto stärker das High-Gefühl, je dunkler, desto stärker ist das Stoned-Gefühl. Easy, isn’t it?”
Die Sonne näherte sich allmählich immer mehr dem Horizont und hüllte sie in ein kuschelig warmes Licht. Die Harzkristalle der Blüten schillerten in den letzten Sonnenstrahlen wie Diamanten. Jonah hätte sie noch stundenlang bewundern können.
Mr. Haze legte Jonah die Hand auf die Schulter und blickte in Richtung der untergehenden Sonne. „Bedtime. Gönnen wir unsere Dame ihren wohlverdienten Schlaf. Schließlich laufen auch einige wichtige Prozesse in der Nacht ab. Lassen wir es also für heute gut sein.” Er steckte sich einen dicken Joint zwischen die Zähne und zündete ihn an. Genüsslich nahm er zwei tiefe Züge und reichte die glimmende Tüte an Jonah weiter. „Take it. Der hier geht noch auf’s Haus. Das nächste Zeug growst du dir gefälligst selber, hyahaha! Jetzt solltest du ja wissen, worauf es ankommt.” Mr. Haze tätschelte seinen Kopf und lachte. „Ach und bevor ich's vergesse: Das hier gebe ich dir auch noch mit, damit wird auch deine Pflanze wieder munter.” Er holte einen kleinen Beutel und zwei Fläschchen aus seiner Tasche hervor. Es waren die Dünger, die er für diesen gigantischen Baum verwendet hatte.
Dankend nahm Jonah die Geschenke entgegen, steckte alles in seine Hosentasche und den Joint in seinen Mund. Er schloss seine Augen und nahm einen tiefen Zug. Als er wieder ausatmete, öffnete er sie, doch konnte vor lauter Qualm die Hand vor Augen nicht sehen. „See you soon, dude.” hörte er die Stimme von Mr. Haze leise durch den Rauch klingen.
Als sich der Rauch wieder verflüchtigt hatte, stand Jonah wieder in seinem Garten vor seiner bedauernswerten Cannabispflanze. Er langte in seine Hosentasche und holte die das kleine Beutelchen und die Fläschchen hervor. Er nahm das Säckchen mit der Aufschrift „Early Stage” und verschüttete das Pulver auf dem Boden um seine Pflanze herum. Dann holte er seine Gießkanne und ließ das Wasser auf die Erde prasseln. Nur wenige Sekunden später sah er wie ein Zucken durch die gesamte Pflanze ging. Sie richtete ihre Blätter auf und wirkte plötzlich deutlich vitaler als noch vor wenigen Minuten. Jonah grinste fröhlich und verließ voller Vorfreude auf die kommenden Tage seine Pflanze im strahlenden Licht der aufgehenden Morgensonne.
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